Interview mit Sven Linow
Prof. Dr. Sven Linow ist Professor für Thermodynamik und Umwelttechnologie an der h_da.
1.
Was ist Ihrer Meinung nach und wissenschaftlich betrachtet die größte Herausforderung im Bezug auf den Klimawandel?
Mein Eindruck ist, dass wir als Gemeinschaft noch gar nicht verstehen, was da gerade auf uns zukommt, d.h. wir sind völlig unvorbereitet auf die Dynamik, die Schnelligkeit und die Heftigkeit der Änderungen im System Erde.
Auf der wissenschaftlichen Ebene ist die Dynamik verstanden und in schöner Klarheit beschrieben. Aber als Gesellschaft wollen wir es nicht verstehen. D.h. eine Kernfrage ist, wie transportiert man dieses Wissen in einer guten klaren und verständlichen Form? (Beispiel: das letzte Mal, wo wir im System Erde +5 °C hatten, waren Land und Ozean nahe des Äquators frei von höheren Lebensformen. Wissenschaftlich ausgedrückt: Man hat zwischen den Wendekreisen nichts in den Sedimenten gefunden, was ein Skelett oder eine Schale hat. Sich diesem Wert anzunähern verändert alles. Sich so eine Welt vorzustellen, erfordert Vorstellungsvermögen, Phantasie, Wissen und erhebliche emotionale Bereitschaft – weit über das hinaus, was heute in unserer Gesellschaft erlaubt oder anschlussfähig ist).
Also wissenschaftlich geht es darum, so wenig Klimawandel wie möglich stattfinden zu lassen, denn so viel wissen wir: Bereits heute haben wir unseren Wohlfühlbereich als Menschheit deutlich verlassen. Wir sind bereits dort, wo unsere Kartographen früher „beware here are monsters“ hingeschrieben haben – nur wollen wir es noch nicht sehen. Die große Herausforderung ist also, Wissen zu transportieren, das niemand haben will und Handlungsoptionen zu entwickeln, auf die sich niemand einlassen möchte.
Als Lehrer sehe ich meine Verantwortung darin, Bereitschaft und Kompetenzen für echte Problemlösung, für das Erkennen und Umsetzen von Handlungsoptionen zu vermitteln – und auch Hoffnung, denn ohne Hoffnung werden wir nicht handeln. Handlungsoption bedeutet für mich Denkverbote zu überschreiten, alle Optionen aus echten neuen frischen mutigen Gedanken zu erschließen und diese in schnellen zupackenden Handlungen auszuprobieren. Aus der Sicht der angewandten Wissenschaften geht es um klares freies Denken, mutiges Machen mit sehr hoher Lernfähigkeit und darum, Gerechtigkeit und Ethik nicht aus den Augen zu verlieren.
2.
Was muss Ihrer Meinung nach dringend für eine nachhaltige Entwicklung in Darmstadt getan werden?
Ich denke, wir werden uns auf eine ziemlich dynamische Zukunft vorbereiten müssen und im Sinne einer Klimagerechtigkeit unseren Teil tun.
Das eine ist natürlich die schnelle und ernsthafte Energiewende (nicht alles davon wird in Darmstadt zu entscheiden sein, aber einiges geht): Damit meine ich eine robuste lokale Energieversorgung (da geht mehr, als wir heute glauben, man muss natürlich einige Denkverbote überwinden, aber es ist wohl weniger als das, was wir uns heute an fossiler Energie importieren können). Dazu gehört als stofflicher Aspekt ein echter Einstieg in eine durchaus stark lokale Kreislaufführung von wertvollen Stoffen: Wenn man das als großen Mantel ansieht, dann ergeben sich darin unglaublich viele Teilaufgaben, die wir aber eigentlich sehr schnell umsetzen müssen.
Davon unabhängig, aber genauso wichtig ist eine lokale Klimaanpassung (wir sehen gerade die ersten Anläufe einer echten Dynamik im Klima) und Resilienz (verstanden als die aktive Fähigkeit von Menschen und Gemeinschaften, mit unerwarteten insbesondere (zer-)störenden Ereignissen umzugehen). Das sind beides gesellschaftliche Themen, die viel mit Fragen von Verantwortung und Gerechtigkeit zu tun haben. Beides entsteht durch Verantwortung füreinander und Gemeinschaft.
Das mit der gebotenen Geschwindigkeit umzusetzen ist schwierig. Dafür braucht es gesellschaftlichen Druck – mehr, als wir heute sehen, und gleichzeitig gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mehr (richtig) machen und weniger Recht-haben ist noch eine Kompetenz von der wir mehr brauchen.
3.
Was sind momentan Herausforderungen in der Lehre, die Sie durch die Corona-Pandemie erfahren?
Die größte Herausforderung ist für mich, wie man die unglaubliche Distanz überbrücken kann, die sich ergibt, seit wir uns nicht mehr regelmäßig begegnen. Ich erfahre digitale Formate zumeist als ungeeignet für echten Austausch. Lernen/Lehren hat ganz viele Ebenen und schon bei Präsenzlehre gelingt es nicht immer, diese alle ausreichend zu nutzen. Bei den digitalen Formaten verschwindet die emotionale Ebene und wir alle schenken uns viel weniger Aufmerksamkeit.
Gerade an einer Hochschule für angewandter Wissenschaft haben Studentinnen und Studenten viele Möglichkeiten, durch direkte Auseinandersetzung mit uns Lehrenden ihren Lernprozess zu bereichern. Das gelang vielen leider schon vorher nicht und verschwindet jetzt. Diese Nähe und die Möglichkeit der ernsthaften Auseinandersetzung (wieder) herzustellen, das sehe ich als das Schwierigste.
Sie merken, ich verwende bewusst Bezüge zu einer emotionalen Ebene – diese brauchen wir um unsere Zukunft zu gestalten – leider sind digitale Werkzeuge ausgesprochen schlecht geeignet, diese Ebene zu transportieren.
4.
Was sind Ihrer Meinung nach aber auch Chancen für uns als Gesellschaft bezogen auf die Themen Nachhaltigkeit und Klimakrise?
Wenn wir gerade etwas lernen können, dann, dass die Zukunft ganz anders sein wird. Plötzlich öffnen sich Möglichkeitsräume und Ideen, die vor 3 Monaten noch mit Denkverboten belegt waren.
Wir können jetzt nach neuen Narrativen suchen und auf diesem Weg uns wieder über Beziehungen zu Menschen, Gemeinschaften und unsere lebendigen Erde definieren (und nicht über Zeugs).
Es gibt mehrere Ebenen, auf denen wir uns und unsere Beziehungen zu unserer Welt neu gestalten können: Wenn ich meine Persönlichkeit nicht mehr über die heute übliche Darstellung von Energie- und Ressourcenvergeudung darstellen kann (Fernreisen, Konsum,…), dann ist dies eine ganz großartige Gelegenheit nach Möglichkeiten zu suchen, die Menschen, Beziehungen und mein Verhältnis zur lebendigen Erde wieder in das Zentrum rücken.
5.
Was können Studierende und Beschäftigte Ihrer Meinung nach aktiv tun, um nachhaltiger zu leben oder sich aktiv einzubringen?
Wir können wichtiges tun, wenn wir dafür die Kraft und Möglichkeit haben – es gibt Lebensphasen, in denen uns das gelingt, andere in denen wir es nicht schaffen werden.
Unser Engagement aber auch die Vorbereitung auf die Zukunft brauchen, dass wir und unsere Gemeinschaft resilient sind und Hoffnung bewahren. Dies zu stärken ist bereits ein wichtiger Beitrag. Da gibt es viele gute Wege – eigene Wege zu suchen kann bedeuten, verschiedenes auszuprobieren aber auch bisher gültige Sicherheiten hinter sich zu lassen.
Für uns alle: Was ist wirklich wichtig, was wollen wir wirklich bewahren? Wodurch definiere ich mich?
Kritisch darüber nachzudenken, was wir wirklich brauchen. Lernen in Zusammenhängen zu denken, versuchen boshafte Probleme in ihrer Komplexität zu erfassen.
Das kritische Denken in Zusammenhängen üben. Akzeptieren, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Ja, wir sind alle Teil des Problems, aber auch: Ja, wir sind gut ausgebildet und haben die Ressourcen, aktiv nach Lösungen für diese Super-Boshaften Probleme zu suchen.
Unsere Politik fühlt viel Widerstand (die „Merchants of doubt“ sind gut darin, diesen zu inszenieren), d.h. wir sollen deutlichen Rückenwind, kritische Unterstützung und laute Öffentlichkeit für eine auf eine menschliche Zukunft gerichtete Politik erzeugen.
Wir haben viele Gruppen und Strukturen hier in Darmstadt – und alle suchen dringend Unterstützung. Dabei können diese Gruppen gut mit vielen Abstufungen von Engagement umgehen: Niemand muss 30h die Woche einbringen, auch 3h im Monat helfen; nur Verlässlichkeit ist wichtig.
Für Studenten: Das disziplinäre Lernen ist wichtig (das eigene Fach gut können), aber es ist nicht alles: Es gibt hier in Darmstadt tolle Angebote, über die eigene Disziplin hinaus zu lernen. Allgemeine Problemlösungskompetenzen, Erfahrungen aus anderen Blickwinkeln, Antworten zu den großen Fragen sind ein Schatz, der uns weit tragen kann. Ich glaube, dass die Fähigkeit mit Neuem umzugehen und Neues zu lernen wichtig sein wird. Aber auch Wissen über Geschichte, darüber, wie andere Menschen zu anderen Zeiten mit schwierigen Phasen umgegangen sind.
Dieses Interview wurde von Martha Kehry am 14.06.2020 schriftlich geführt.